Das Ertragswertverfahren ist ein standardisiertes Verfahren zur Wertermittlung von Immobilien, das auf den nachhaltig erzielbaren Erträgen – in der Regel Mieteinnahmen – basiert. Es ist gesetzlich in der Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV) verankert und stellt neben dem Vergleichswertverfahrenund dem Sachwertverfahren eines der drei normierten Wertermittlungsverfahren in Deutschland dar. Das Ertragswertverfahren wird bevorzugt bei der Bewertung von vermieteten Wohn- und Gewerbeimmobilien angewendet und ist besonders für Investoren, Banken und bei steuerlichen oder gerichtlichen Bewertungen von zentraler Bedeutung.
Grundprinzip und Anwendungsbereich
Das Ertragswertverfahren folgt der investitionstheoretischen Logik: Der Wert einer Immobilie entspricht dem Barwert aller zukünftigen Erträge, die mit ihr erwirtschaftet werden können. Anders als beim Sachwertverfahren, das die Herstellungskosten betrachtet, oder beim Vergleichswertverfahren, das auf Marktpreise abstellt, fokussiert sich das Ertragswertverfahren auf die wirtschaftliche Nutzbarkeit.
Typische Anwendungsfälle:
- Mehrfamilienhäuser mit vollständiger oder überwiegender Vermietung
- Vermietete Eigentumswohnungen
- Wohn- und Geschäftshäuser mit gemischter Nutzung
- Gewerbeimmobilien (Bürogebäude, Einzelhandel, Lagerhallen)
- Renditeimmobilien für institutionelle oder private Investoren
- Erbschaftsgutachten und Scheidungsgutachten bei vermieteten Objekten
- Beleihungswertermittlungen von Banken
Nicht geeignet für:
- Selbstgenutzte Einfamilienhäuser (hier: Vergleichs- oder Sachwertverfahren)
- Unbebaute Grundstücke (hier: Bodenwertermittlung)
- Spezialimmobilien ohne Mietmarkt (z. B. Kirchen, Museen)
Die zwei Komponenten des Ertragswerts
Der nach dem Ertragswertverfahren ermittelte Ertragswert setzt sich aus zwei unabhängigen Komponenten zusammen:
1. Bodenwert
Der Bodenwert wird getrennt vom Gebäude ermittelt und entspricht dem Wert des unbebauten Grundstücks. Die Berechnung erfolgt üblicherweise über:
Bodenwert = Grundstücksfläche × Bodenrichtwert
Der Bodenrichtwert wird von den örtlichen Gutachterausschüssen veröffentlicht und basiert auf tatsächlich gezahlten Grundstückspreisen in vergleichbaren Lagen. Er ist zonenweise gegliedert und berücksichtigt die Lage, Erschließung und Nutzbarkeit.
Der Bodenwert bleibt über die Zeit weitgehend stabil oder steigt tendenziell, während das Gebäude an Wert verliert. Diese Trennung ist im Ertragswertverfahren konzeptionell wichtig, da nur das Gebäude über Mieterträge amortisiert wird.
2. Gebäudeertragswert
Der Gebäudeertragswert wird aus den nachhaltig erzielbaren Erträgen des Gebäudes über dessen Restnutzungsdauerkapitalisiert. Die Ermittlung erfolgt in mehreren systematischen Schritten.
Schritt-für-Schritt-Berechnung
Schritt 1: Ermittlung des Jahresrohertrags
Der Jahresrohertrag ist die Summe aller jährlichen Mieteinnahmen, die nachhaltig und marktüblich mit der Immobilie erzielt werden können. Entscheidend ist nicht die tatsächlich vereinbarte Miete, sondern die marktübliche Miete zum Bewertungsstichtag.
Datenquellen für marktübliche Mieten:
- Qualifizierte Mietspiegel der Gemeinde
- Vergleichsmietdaten des Gutachterausschusses
- Immobilienportale und Marktberichte
- Mietdatenbanken
Bei gemischt genutzten Objekten (Wohn- und Geschäftshäuser) werden Wohn- und Gewerbemieten getrennt erfasst und addiert.
Beispiel: Mehrfamilienhaus mit 1.200 m² Wohnfläche, marktübliche Miete 12 €/m² → Jahresrohertrag = 1.200 m² × 12 €/m² × 12 Monate = 172.800 €/Jahr
Schritt 2: Abzug der Bewirtschaftungskosten
Von dem Jahresrohertrag werden die jährlichen Bewirtschaftungskosten abgezogen. Diese umfassen alle Kosten, die dem Eigentümer unabhängig von der Vermietung entstehen:
Verwaltungskosten Kosten für die professionelle Immobilienverwaltung, üblicherweise 3-5 % des Rohertrags bei Mehrfamilienhäusern, teilweise höher bei Gewerbeimmobilien.
Instandhaltungskosten Rücklagen für laufende Reparaturen und Instandsetzungen. Die Höhe richtet sich nach DIN 18960 und wird häufig nach Erfahrungswerten der Gutachterausschüsse angesetzt. Typische Werte liegen zwischen 7-12 €/m² Wohnfläche pro Jahr, abhängig von Gebäudealter und -zustand.
Mietausfallwagnis Pauschaler Abschlag für mögliche Leerstände, Zahlungsausfälle und Mietminderungen, üblicherweise 2-4 % des Rohertrags. In schwachen Märkten oder bei Gewerbeimmobilien kann dieser Wert höher ausfallen.
Nicht umlegbare Betriebskosten Kosten, die der Eigentümer selbst tragen muss, etwa Gebäudeversicherung, Grundsteuer bei Leerstand oder Hausmeisterkosten, sofern nicht umlagefähig.
Die Bewirtschaftungskosten können pauschal oder detailliert ermittelt werden. Gutachterausschüsse veröffentlichen häufig Erfahrungswerte für unterschiedliche Objektarten.
Beispiel (Fortsetzung): Jahresrohertrag: 172.800 €
- Verwaltung (3,5 %): 6.048 €
- Instandhaltung (10 €/m²): 12.000 €
- Mietausfallwagnis (3 %): 5.184 €
- Nicht umlegbare Betriebskosten: 3.000 € → Bewirtschaftungskosten gesamt: 26.232 €
Schritt 3: Berechnung des Reinertrags
Reinertrag = Jahresrohertrag – Bewirtschaftungskosten
Der Ertragswert basiert auf diesem Reinertrag, also dem nachhaltigen jährlichen Überschuss, den die Immobilie erwirtschaftet.
Beispiel (Fortsetzung): Reinertrag = 172.800 € – 26.232 € = 146.568 €/Jahr
Schritt 4: Abzug der Bodenwertverzinsung
Da der Bodenwert bereits separat als eigenständige Wertkomponente berücksichtigt wird, muss vom Reinertrag die Verzinsung des Bodenwerts abgezogen werden. Andernfalls würde der Bodenwert doppelt gewertet.
Bodenwertverzinsung = Bodenwert × Liegenschaftszinssatz
Der Liegenschaftszinssatz ist ein marktüblicher Zinssatz, mit dem Grundstückserträge kapitalisiert werden. Er wird von den Gutachterausschüssen auf Basis tatsächlicher Kaufpreisanalysen ermittelt und veröffentlicht.
Beispiel (Fortsetzung): Bodenwert: 300.000 € (600 m² × 500 €/m²) Liegenschaftszinssatz: 4,0 % (aus Gutachterausschuss) → Bodenwertverzinsung = 300.000 € × 0,04 = 12.000 €/Jahr
Gebäudereinertrag = Reinertrag – Bodenwertverzinsung
Beispiel (Fortsetzung): Gebäudereinertrag = 146.568 € – 12.000 € = 134.568 €/Jahr
Schritt 5: Kapitalisierung mit dem Vervielfältiger
Der Gebäudereinertrag wird nun mit einem Vervielfältiger (auch Barwertfaktor genannt) kapitalisiert, um den Gebäudeertragswert zu ermitteln. Der Vervielfältiger berücksichtigt:
- Den Liegenschaftszinssatz
- Die Restnutzungsdauer des Gebäudes
Der Vervielfältiger wird nach folgender Formel berechnet:
Vervielfältiger = [(1 + i)^n – 1] / [i × (1 + i)^n]
Dabei ist:
- i = Liegenschaftszinssatz (dezimal)
- n = Restnutzungsdauer in Jahren
Beispiel (Fortsetzung): Liegenschaftszinssatz: 4,0 % (0,04) Restnutzungsdauer: 50 Jahre → Vervielfältiger = [(1,04)^50 – 1] / [0,04 × (1,04)^50] = 21,48
Gebäudeertragswert = Gebäudereinertrag × Vervielfältiger
Beispiel (Fortsetzung): Gebäudeertragswert = 134.568 € × 21,48 = 2.890.520 €
Schritt 6: Ermittlung des Ertragswerts
Ertragswert = Bodenwert + Gebäudeertragswert
Beispiel (Fortsetzung): Ertragswert = 300.000 € + 2.890.520 € = 3.190.520 €
Dieser Ertragswert entspricht dem Verkehrswert der Immobilie nach dem Ertragswertverfahren.
Der Liegenschaftszinssatz als zentrale Stellgröße
Der Liegenschaftszinssatz ist die wichtigste Kenngröße im Ertragswertverfahren. Er beeinflusst sowohl die Bodenwertverzinsung als auch den Vervielfältiger und damit maßgeblich den Gesamtwert.
Einflussfaktoren auf den Liegenschaftszinssatz:
- Objektart (Wohnimmobilie, Gewerbeimmobilie)
- Lage und regionale Marktentwicklung
- Allgemeines Zinsniveau
- Risikobewertung
- Angebot und Nachfrage am Immobilienmarkt
Typische Bandbreiten:
- Top-Wohnlagen in Großstädten: 2,5-3,5 %
- Durchschnittliche Wohnlagen: 3,5-4,5 %
- Ländliche Gebiete: 4,5-5,5 %
- Gewerbeimmobilien: 4,0-6,0 % (je nach Risiko)
Ein niedriger Liegenschaftszinssatz führt zu einem hohen Vervielfältiger und damit zu einem höheren Ertragswert – ein Zeichen für attraktive, sichere Investments. Ein hoher Zinssatz signalisiert höheres Risiko und führt zu niedrigeren Werten.
Restnutzungsdauer und ihre Bedeutung
Die Restnutzungsdauer ist die Anzahl der Jahre, in denen das Gebäude voraussichtlich noch wirtschaftlich genutzt werden kann. Sie wird nach folgender Formel berechnet:
Restnutzungsdauer = Gesamtnutzungsdauer – Alter des Gebäudes + Verlängerung durch Modernisierung
Standardwerte für Gesamtnutzungsdauer:
- Massivbauten: 80-100 Jahre
- Fertighäuser: 60-80 Jahre
- Gewerbehallen: 50-60 Jahre
Umfassende Modernisierungen können die Restnutzungsdauer erheblich verlängern. Eine vollständige Kernsanierung kann theoretisch die Gesamtnutzungsdauer neu beginnen lassen.
Je länger die Restnutzungsdauer, desto höher der Vervielfältiger und damit der Gebäudeertragswert. Bei sehr alten Gebäuden mit geringer Restnutzungsdauer sinkt der Vervielfältiger deutlich.
Besondere Bewertungssituationen
Marktanpassung
In Märkten mit starker Spekulation oder strukturellen Besonderheiten kann der rechnerische Ertragswert vom tatsächlichen Marktwert abweichen. In solchen Fällen kann eine Marktanpassung durch Zu- oder Abschläge erforderlich werden. Dies sollte jedoch gut begründet und dokumentiert sein.
Denkmalschutz
Bei denkmalgeschützten Immobilien sind besondere Instandhaltungskosten und steuerliche Vergünstigungen zu berücksichtigen. Dies kann sich sowohl werterhöhend als auch wertmindernd auswirken.
Erbbaurecht
Bei Immobilien auf Erbbaurecht entfällt der Bodenwert, stattdessen ist der kapitalisierte Erbbauzins als Belastung zu berücksichtigen.
Indexmieten und Staffelmieten
Indexmieten oder Staffelmieten müssen auf ihre Nachhaltigkeit geprüft werden. Liegen sie über der marktüblichen Entwicklung, ist ein Durchschnittswert anzusetzen.
Vergleich mit anderen Verfahren
Ertragswertverfahren vs. Vergleichswertverfahren Das Vergleichswertverfahren leitet den Wert aus tatsächlichen Kaufpreisen vergleichbarer Objekte ab und ist bei Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern das bevorzugte Verfahren. Das Ertragswertverfahren hingegen fokussiert auf die Rendite und ist bei vermieteten Mehrfamilienhäusern Standard.
Ertragswertverfahren vs. Sachwertverfahren Das Sachwertverfahren ermittelt den Wert aus Herstellungskosten und Bodenwert. Es kommt zum Einsatz, wenn keine Mieterträge vorliegen (selbstgenutzte Immobilien) oder keine Vergleichswerte verfügbar sind. Der Ertragswert kann erheblich vom Sachwert abweichen – insbesondere in Toplagen mit hohen Mieterträgen oder bei aufwendig sanierten Objekten mit niedrigen Mieten.
Bedeutung für die Praxis
Das Ertragswertverfahren ist für verschiedene Akteure von zentraler Bedeutung:
Für Investoren und Kapitalanleger Der Ertragswert zeigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und bildet die Grundlage für Renditeberechnungen. Die Cap Rate (Kapitalisierungsrate) als Kehrwert des Kaufpreisfaktors ist ein wichtiges Investitionskriterium.
Für Banken und Kreditgeber Bei der Ermittlung des Beleihungswerts für die Immobilienfinanzierung ist das Ertragswertverfahren bei vermieteten Objekten das Standardverfahren. Eine hohe und nachhaltige Rendite erhöht die Kreditwürdigkeit.
Für steuerliche und gerichtliche Zwecke Bei Erbschaftsgutachten, Scheidungsgutachten oder Bewertungen für das Finanzamt schreibt die ImmoWertV das Ertragswertverfahren für vermietete Immobilien verbindlich vor.
Für Verkäufer und Käufer Der Ertragswert ist ein wichtiges Verhandlungsargument beim Verkauf von Renditeimmobilien. Er zeigt transparent, ob ein Kaufpreis wirtschaftlich gerechtfertigt ist.
Häufige Fehlerquellen
- Unrealistische Mietansätze: Zu optimistische oder veraltete Mietdaten verfälschen den Rohertrag
- Unvollständige Bewirtschaftungskosten: Vergessene Positionen führen zu Überbewertung
- Falsche Liegenschaftszinssätze: Verwendung pauschaler oder veralteter Zinssätze statt aktueller Gutachterausschusswerte
- Fehlerhafte Restnutzungsdauer: Unzutreffende Einschätzung des Gebäudezustands verzerrt den Vervielfältiger
- Doppelerfassung von Werten: Bodenwertverzinsung wird vergessen, wodurch der Bodenwert doppelt einfließt
Fazit
Das Ertragswertverfahren ist das zentrale Bewertungsverfahren für vermietete Immobilien und bildet die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit präzise ab. Die methodisch korrekte Anwendung nach ImmoWertV erfordert fundierte Marktkenntnisse, präzise Datenerhebung und Erfahrung in der Immobilienbewertung. Für Eigentümer von Mehrfamilienhäusern, Investoren und bei Erbschaftsgutachten oder Finanzierungen ist ein professionell ermittelter Ertragswert durch einen qualifizierten Sachverständigen – idealerweise mit HypZert-Zertifizierung – unverzichtbar. Er schafft Transparenz, Rechtssicherheit und bildet die Grundlage für fundierte wirtschaftliche Entscheidungen beim Kauf, Verkauf oder der Finanzierung von Renditeimmobilien.